08-19 Camoglieres

Sonntag, den 19. August, Santa Anna – Camoglieres

Der heutige Tag begann bei mir bereits irgendwann kurz nach Mitternacht. Um diese Zeit herum beschloss nämlich eine lautstarke Italienergruppe sich auf den Balkon des unmittelbar neben unserem Hotel gelegenen Chalets zu verschieben, um dort mit lautem Palaver die Sommernacht zu feiern. An Schlaf war trotz ehrlichen Versuchen meinerseits kaum mehr zu denken. Nach etwa einer halben Stunde lauter Unterhaltung draussen stand Jean-François auf, ging zum Fenster und rief höflich zweimal: “Buona Notte!” Richtung Chalet. Das bewirkte gar nichts, ich meine, die lärmige Gesellschaft hörte François’ guten Wunsch nicht einmal. Als Abwehr­massnahme gegen den Lärm schloss Jean-François unser Fenster und legte sich wieder schlafen. Ich bin es aber nicht gewohnt, bei geschlossenem Fenster zu schlafen, allein der Gedanke daran, dass das Fenster geschlossen sei, hielt mich nun wach. Also, nach einer weiteren halben Stunde oder so, ich glaubte, es sei nun ruhiger geworden, öffnete ich das Fenster wieder. Fehlanzeige! Wenn diese Leute doch nur endlich ins Bett gingen!!! Irgendwann stand nun auch Adrian auf und schaute aus dem Fenster um nach der Ursache des Lärms zu forschen. Jetzt hatte ich genug, es muss schon so etwa um 2 Uhr morgens gewesen sein:”Gönnd jetzt ändlig is Bett!” rief ich laut und mit ärgerlicher Stimme zum Fenster hinaus. Verstanden hatten sie die Worte wohl kaum, aber der Unmut in meiner Stimme wirkte: ohne Antwort zu geben verzogen sie sich vom Balkon, eine Zeitlang leuchtete noch ihre Balkonlampe in unser Zimmer, aber auch diese wurde gelöscht, und endlich wurde es ruhig.

Das Morgenessen im Hotel war nicht besonders und leider das kümmerlichste der ganzen Woche: das Brot alt und das orange gefärbte dünne Zuckerwasser, als ‘Orangensaft’ deklariert, liess ich demonstrativ auf dem Nebentisch stehen. Immerhin, der Sandwich-Weggen, welchen ich gegen Entgelt für unterwegs besorgte, war von wesentlich besserer Qualität und frisch. Nachdem wir am Vortag noch den vollen Rucksack getragen hatten, hatten wir für heute erstmals das ‘Sherpa Taxi‘ Unternehmen beauftragt, unsere Rucksäcke zu transportieren. Das war eine gute Idee, standen doch 7 Stunden Wanderzeit, zwei Wanderbuch-Etappen in einem Tag, auf dem Programm. Nur einen leichten Tagesrucksack tragen zu müssen machte da schon den Unterschied.

Pünktlich um neun Uhr waren wir alle bereit und marschierten vorerst den kurzen Weg wieder hinauf zum Dorfplatz, eigentlich nur einen grossen Parkplatz mit der kleinen Wallfahrtskapelle mittendrin.

Nicht wirklich wert als Fotosujet. Santa Anna ist zwar landschaftlich schön gelegen, die Siedlung besteht jedoch vorwiegend aus neueren Ferienhäusern und vor allem vielen Parkplätzen, um das Zentrum mit der Kapelle auf dem flachen Hügelkamm gelegen, herum. Santa Anna ist eben ein beliebtes lokales Ausflugsziel, die Italiener fahren an freien Tagen hier herauf, parkieren und picknicken dann in den umliegenden Rastplätzen im Waldgebiet (einige wandern wohl auch). An diesem noch frühen Sonntagmorgen waren die Parkplätze jedoch noch fast leer, das hat sich dann im Laufe des Tages wohl geändert. Von der Kapelle aus bogen wir nach links in ein kleines leicht abfallendes Natursträsschen ein, welches uns in und um einen stark bewaldeten Talbogen führte.

Viele Wildblumen am Wegrand erfreuten uns an den Lichtungen. Nach einer guten halben Stunde, wir erreichten das Ende des Talbogens, gelangten wir zur kleinen idyllisch gelegenen Kapelle von Roi. Die schöne Lage lud zu kurzem Verweilen ein. Wir kamen wieder auf Wiesland und sahen das Gehöft bei der Kapelle bewohnt, im heutigen Valle Maira nicht mehr ganz so selbstverständlich. Nach einem irrtümlichen Abstecher gelangten wir bald auf schmale, aber mit dem gelben Balken des Mairaweges gut markierte, Pfade und wanderten sehr angenehm durch schöne Waldgebiete. Unterwegs begegneten wir auch wieder dem Paar aus Inzlingen, welches uns schon aus der Wanderung vom Vortag her bekannt war, es sollte beileibe nicht die letzte Begegnung sein. Das Paar hatte jedoch das Pech, dass sie, ausser dem vorletzten Tag, nie in der gleichen Unterkunft wie wir übernachten konnten: wenn sie via ihrem Handy reservieren wollten hiess es stets: “leider ist eine grössere Wandergruppe bei uns angemeldet” – wir natürlich. Übernachtungsmöglichkeiten gibt es aber nicht sehr viele entlang des Maira Weges. So mussten sie oft ein Dorf weiter, abseits des Weges, oder privat übernachten.

Bei einem hübschen kleinen Weiler, an diesem Tag jedoch verlassen, legten wir eine verdiente Essenspause ein. Ich meine der Weiler hiess Mostiola, aber die Dörfer und Weiler auf den Höhen des Valle Maira sind leider nie mit Ortschildern angeschrieben, und es gab auch nie Einkaufsmöglichkeiten. Die wenigen Häuser des vorgenannten Weilers waren im Stile von ‘Rusticos’ geschmackvoll restauriert worden, werden aber offensichtlich nur noch zu Freizeitaktivitäten benutzt. Es war dort so friedlich und schön! Durch weitere Waldgebiete und kleinere Weiler und dem Ausholen in oder dem Durchqueren von weiteren Seitenkesseln erreichten wir schliesslich nach einem stärkeren Weganstieg um die Mittagszeit herum Pagliero.

Wer im Valle Maira wildromantische Schluchten und bizarre Felsen erwartet hatte, war bis dahin eher enttäuscht worden, aber jetzt erblickten wir zum ersten Mal den Monte Rubbio, wir kamen geologisch in die Kalksteinregion, und nach Pagliero wurde das Gelände jetzt sichtbar schroffer. Mehr als einmal mussten wir in weitere Seitentäler hinein ausholen. Die nun immer grossartiger werdende Landschaft entschädigte uns für die Umwege sowie die mit der Durchquerung von diesen zunehmend rauher werdenden Seitenkesseln verbundenen Auf- und Abstiege: der Weg ist bekanntlich das Ziel!

Nach stärkerem Aufstieg erreichten wir mit der Wiese von Grange Rubbio, auf 1350 m ü.M. gelegen, eine Wiese mit prächtiger Aussicht. Man sah wieder etwas weiter in das Haupttal hinein, welches zunehmend enger und verwinkelter wurde, so dass man bei Geländekanten meist nur ein kleines Stück weiter gegen das Haupttal hinauf sah. Wir hatten mit der Kalksteinformation eine Karstlandschaft von wilder Schönheit erreicht. Der schmale aber sehr gut markierte Höhenpfad führte uns am späten Nachmittag dicht unter den Felsen unterhalb des Monte Rubbio durch, es ging auf und ab, und es boten sich immer wieder neue Tiefblicke.

Nach einer weiteren Geländekante erblickten wir endlich vor uns einen neuen breiten Talbogen mit dem Dorf Camoglieres mittendrin, malerisch unterhalb einer Felspartie auf einer Geländeterrasse gelegen.

Wir erreichten das hübsche kleine Dorf um fünf Uhr nachmittags und erreichten ohne Schwierigkeit die heimelige Locanda del Silenzio. Es handelte sich bei der Locanda um ein einst vor dem Verfall stehendes (Bauern?)haus, im örtlichen Stil aus Stein erbaut, welches erst in neuerer Zeit aufwendig zu einer gemütlichen Locanda mit Unterkunft renoviert und umgebaut worden war. Die Sonne schien angenehm warm, und so fanden wir uns alle nach dem Zimmerbezug (wir waren erfreut, dass auch der Rucksacktransport geklappt hatte) zu einer kleiner Siesta mit Sonnenbad auf den Liegestühlen im schönen Garten der Locanda ein.

Jean-François hatte Geburtstag und liess verkünden, dass er aus diesem Anlass auf sieben Uhr zu einem gemeinsamen Umtrunk im Garten einladen würde. Bei einem feinen Glas Sekt oder je nach Wunsch Wein gratulierten wir Jean-François in fröhlicher Runde zu seinem Geburtstag und freuten uns an seiner netten Geste. Dann war Zeit zum Nachtessen. Die Besitzerfamilie der kleinen Locanda del Silenzio machte ihrem Ruf für gute einheimische Küche alle Ehre, und wir alle rühmten das ganz ausgezeichnete vielgängige Nachtessen in der gemütlichen Stube. Den nötigen Hunger hatten wir nach dem langen Wandertag beisammen! Wir waren jetzt alle rechtschaffen müde und gingen nach dem guten Mahl rechtzeitig zu Bett.

René

Hiking in Switzerland and around the world